Eine Kerze erzählt aus ihrem Leben

von Kriemhilde Lecking

Da liege ich nun schon monatelang in dieser Schrankschublade und langweile mich. Ich habe mich sogar schon mit einem Bindfaden angefreundet, mit einem rostigen Nagel gesprochen und mir die Leidensgeschichte eines alten Blechautos angehört, aber das ist schon lange her, und wir wissen uns längst nichts mehr zu erzählen.

Nicht weit von mir, in einer Ecke, liegt meine dicke, hochmütige, rote, fünf Zentimeter große Base. Sie hat noch nie mit mir gesprochen, denn ich bin nur dünn, auf zwei Zentimeter abgebrannt und bestehe aus gewöhnlich gelblich-weißem Wachs.

So träume ich denn vor mich hin und erinnere mich oft an die Zeit, als ich glatt, ohne hässliche Spuren von geschmolzenem Talg in einer würdigen Größe von zehn Zentimetern mit neunundvierzig Schwestern in einem Kasten auf einen Holzwagen verladen wurde. In einem Kaufhaus wurden wir auf ein Lager gestellt, in dem es nach Kleidern, Seife, Parfüm, Leder und verschiedene Arten von Creme roch.

Wir lagen dicht zusammen in unserem Packet und nur selten flüsterten wir miteinander. Nach zehn Monaten fühlten wir uns hochgehoben, weggebracht und wurden hinter einer Theke ausgepackt. Mit neunundvierzig gelb-weißen Kerzen rollte ich in ein gläsernes Fach auf dem Verkaufstisch. Neugierig sah ich mich um, denn ich hatte das Glück, oben zu liegen. Ich entdeckte neben mir wunderschöne, hellblaue Seife. „Guten Tag,“ sagte ich gutgelaunt. Da ich keine Antwort erhielt, war ich still und dachte mir meinen Teil.

„Was wünschen Sie, bitte?“ hörte ich die junge Verkäuferin eine Dame fragen. „Ein Stück Seife, bitte.“ Die Verkäuferin nahm die blaue, und ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen: „Na, dann leb wohl und viel Spaß.“

„Sonst noch etwas?“ „Mh, ja, eine Tube Zahnpasta, bitte – nein, nicht die, diese da. Danke schön.“ „Eine Mark und sechzig bitte. Danke! Auf Wiedersehen.“ Die Dame taucht zwischen den vielen Menschen, die sich langsam durch die Gänge schoben, unter. Als ich mich noch eine Weile interessiert umsah, während meine Schwestern miteinander wisperten, hörte ich plötzlich eine Stimme sagen: „… und eine von diesen Kerzen, bitte.“ Ich sah eine alte Frau, die mit ihrer verarbeiteten, runzligen Hand auf uns wies. Der Zufall wollte es, daß die Verkäuferin mich ergriff. Ich konnte noch eben sehen, daß sie blassrosa lackierte Fingernägel hatte, dann verschwand ich in einer Tüte.

Als es dunkel um mich wurde, wusste ich, daß ich in der Einkaufstasche der alten Frau lag. Als das Mütterchen zu Hause seine Tasche auspackte, nahm es mich aus der Tüte, faltete diese sorgfältig zusammen und legte mich in einen altmodischen Küchenschrank, neben einen großen, dunklen Kasten, einigen Tassen und einem Kästchen Streichhölzer. Da ich keine Lust hatte, mich mit der neuen Umgebung anzufreunden, verhielt ich mich still und wartete darauf, was mit mir geschehen würde.

Im Schrank wurde es immer dunkler. Nur durch die Schrankscheibe mit einer etwas schmutzig gewordenen Tüllgardine drang das gelbe, anheimelnde Licht der Stubenlampe. Später wurde die Schranktür geöffnet, die Frau nahm mich heraus, dann die Streichhölzer, zündete mit unsicheren Fingern ein Zündholz an und ich sah, innerlich zitternd vor Erwartung, dem Augenblick entgegen, an dem zum ersten Mal mein langer, weißer Docht Feuer fangen sollte. Da flackerte er auch schon auf und ein angenehmes Beben ging durch meinen Leib. Die Frau hielt schützend die Hand über die Flamme, während sie langsam die Kellertür aufschloß und vorsichtig die Stufen hinabstieg. Es war ein alter, schlecht erhaltener Keller und in meinem Licht, so bescheiden und mild es auch war, konnte ich graue, feuchte Wände, abgebröckelten Mörtel und Spinnweben in den Fugen entdecken. Die Alte schloß eine zweite Tür auf, ging auf ein Regal zu und nahm ein Glas mit Eingemachtem in den Arm. Leise schlurfend stieg sie wieder hinauf in die Wohnung. Sie blies mich aus und legte mich wieder zu den Streichhölzern in den Schrank. Ich war sehr stolz, nun zum ersten Mal meinen Zweck erfüllt zu haben.

Ich wurde nun öfter mit in den Keller genommen. Einmal durfte ich sogar auf dem Tisch stehen. Die Frau war allein, sah versunken in meine Flamme, bis ein großer, schwarzer Kater gewand auf den Tisch sprang, einen Buckel macht und mit glänzenden, schmalen grünen Augen in mein Licht blinzelte. Die Alte blies mich aus und zog das Tier über den Tisch zu sich heran. Dabei stieß sie mich mit dem Arm an und ich rollte unbeachtet über die Tischplatte und fiel zu Boden. Der Kater lag inzwischen auf dem Schoß seiner Herrin, die ihn liebevoll zwischen den Ohren kraulte, schnurrte vor Wohlbehagen und schloß genießerisch die Augen.

„Ph,“ dachte ich und sah in eine andere Richtung. Ich blieb die ganze Nacht auf dem kalten Boden liegen.

Am anderen Morgen wurde ich mit Staub, Stecknadeln und mehreren Brotkrumen auf eine Kehrichtschaufel gefegt. Die Alte musste mich wohl mit ihren kurzsichtigen Augen übersehen haben. Als ich wenig später in dem Aschenkasten lag, hatte ich schon mit dem Leben abgeschlossen. Aber das Glück war mir hold.

Es musste gegen Mittag sein, als der Deckel des Aschenkastens hochgehoben wurde und ein wuscheliger Bubenkopf über den Rand sah. Ein feuchtes, schmutziges Stück Zeitungspapier verdeckte mich zur Hälfte. Der Junge begann vorsichtig in dem Abfall zu wühlen und bei seiner Umsicht kam mir der Gedanke, daß er das wohl öfter machte. Da hatte er mich entdeckt. Er angelte mich aus dem Schmutz, besah mich eine Weile und steckte mich in seine Hosentasche. Obwohl ich hier eine merkwürdige Gesellschaft vorfand, atmete ich erleichtert auf, glücklich aus dem Schmutz, der mir Übelkeit verursacht hatte, befreit zu sein.

Ich lag neben einem bunten Glasknicker, der mich ein wenig hochmütig musterte und ich sah schnell weg, weil ich mich schämte, daß an meinem schwarzen Docht Kaffeesatz hing. Die übrigen meiner Genossen waren zwei glatte, runde Kieselsteine, ein Pfennig, ein tintenbeschmiertes Taschentuch, ein vertrockneter Käfer, von dem ich mich gleich möglichst fern hielt, weil er entsetzlich roch, eine Büroklammer und ein blauer, stumpfer Bleistiftstummel. Den sah ich als meinen Leidensgefährten an, weil er auch immer kürzer wurde. Wir lagen fast nebeneinander und machten uns gleich miteinander bekannt. Er erzählte, er sei ein sehr harter Bleistift und als ich meine Nase oder vielmehr meinen Docht rümpfte, setzte er schnell hinzu, das sei wohl sein Glück, denn weiche Bleistifte lebten nicht lange, weil sie immer angespitzt werden müssten. Darin musste ich ihm recht geben. Ich erzählte ihm nun, stolz, schon etwas erlebt zu haben, von meiner Begegnung mit dem Kater und wie ich in den Aschenkasten gelangt war. Ich erzählte so schaurig, daß er bestimmt gezittert hätte, wäre er nicht ein harter Bleistift gewesen. Er bekam einen unerhörten Respekt vor mir und ich will nicht verschweigen, daß ich mich sehr geschmeichelt fühlte.

Wir schlossen Freundschaft miteinander und hätten uns bestimmt noch ineinander verliebt, wenn nicht eine kleine Hand mich schon wenig später aus der Tasche gezogen hätte. „Was gibst du dafür?“ fragte der Junge seinen schmächtigen Kameraden, der mit ihm auf der Steintreppe saß. „Mh, das hier.“ Der Kleine zog ein Radiergummi heraus. – „Aber,“ wendete er ein, „ das ist mein bestes, du musst mir noch Streichhölzer geben.“ „Na, meinetwegen, hier!“ Der Junge griff in die andere Tasche und warf Streichhölzer zu mir auf die Treppe. „In Ordnung!“

Wieder wurde ich aufgenommen und zusammen mit den Streichhölzern in die Manteltasche gesteckt, in der ich diesmal zwei rote Gummibänder antraf.

Lange, sehr lange blieb ich dort liegen, und fürchtete schon, man hätte mich vergessen. Wenn ich wenigstens meine Ruhe gehabt hätte! Aber jedes Mal, wenn ich spürte, daß der Mantel vom Haken genommen und angezogen wurde und wenn ich an einem kalten Luftzug durch die Taschenöffnung spürte, daß ich draußen war, wo es wohl inzwischen kalt geworden war, dann grub sich eine feste Jungenhand in die Tasche und begann nach einer Weile, mich scheinbar gedankenverloren zwischen den Fingern hin und her zu rollen. Manchmal wurde mir dabei sogar schwindlig. Selten wurden die Gummibänder dieser Behandlung unterzogen und die Streichhölzer nie, weshalb sie sich auch entsprechend lustig über mich machten. Nun, es kann sich jeder vorstellen, welche schrecklichen Tage und Wochen ich in dieser furchterregenden Manteltasche verbrachte, bis ich eines Tages leicht angeschmutzt aus meinem Dunkeln befreit wurde und in einer dämmrigen, bescheidenen Stube auf den Tisch gelegt wurde.

Der Tisch hatte keine Tischdecke, war aber sehr sauber und ich fühlte mich deshalb gleich wohl. In meiner Nähe lagen einige frische Tannenzweige und ich fragte mich, was die hier wohl zu suchen hätten. Der Junge stand noch am Tisch und sah lächelnd seine Mutter an, die in die Schürzentasche griff und drei weitere Kerzen neben mich legte. Zwei sahen mir sehr ähnlich, nur waren sie etwas kürzer als ich. Ich war damals noch sechs bis sieben Zentimeter groß. Die dritte war meine dicke, rote Base, die heute neben mir liegt, jetzt allerdings drei Zentimeter kleiner.

Die Frau nahm uns und zündete uns an. Mein Wachs wurde flüssig und sie ließ ihn auf eine kleine, runde Pappscheibe träufeln, und preßte mich fest darauf, daß mir beinahe die Luft wegblieb und blies mich wieder aus. Den anderen erging es ebenso. Die Tannenzweige wurden in ein Glas mit Wasser auf den Schrank gestellt und wir, standfest gemacht, daneben. Die Frau war sehr mager und die Stube nur bescheiden eingerichtet. Ich war in eine arme Familie geraten. Der Junge trat hinter einen bunten Vorhang, der einzige farbige Flecken in dem dunklen Zimmer, und ich hörte ihn mit Wasser planschen. Mich den Tannen zuwendend, erkundigte ich mich freundlich: „Na, was macht ihr denn hier?“ Sie sahen mich erstaunt an, wippten mit ihren Zweigen und kicherten leise. „So, weißt du denn nicht, daß morgen der vierte Advent und in drei Tagen Weihnachten ist?“ Ach, dachte ich, Weihnachten, davon hatte ich schon gehört, und es sollte sogar ein besonderer Tag für die Kerzen sein. „Und“, setzten die Tannenzweige wieder kichernd hinzu, „an dem Tag sind wir doch und – na ja, ihr natürlich auch, das Wichtigste.“ „So, so“, antwortete ich und schwieg.

Heimlich freute ich mich auf Weihnachten. Wenige Minuten später wurde es lebendig in der Stube. Drei Kinder kamen herein. Ein kleines Mädchen ließ sich gleich auf die Erde fallen und klatschte in die Händchen. Ihr folgten zwei Jungen. Der jüngere weinte leise und hatte schmutzige Ränder unter den Augen. Sie zogen sich langsam ihre Mäntel aus und rieben sich etwas unbeholfen die kleinen, rotgefrorenen Hände warm.

Früh am andern Morgen, es war noch dunkel in der Stube, stand die Mutter schon auf, setzte den Kaffeekessel auf den Herd und begann, weiße Brotscheiben mit Butter und Marmelade zu bestreichen. In einem kleinen Raum nebenan begann es zu rumoren und zu flüstern. Die Mutter stellte die Tannenzweige auf den Tisch und uns hübsch verteilt daneben. Wieder wurde ich angesteckt. – Vierter Advent! Die Kinder saßen um den Tisch, sangen, freuten sich und sahen glücklich in unser Licht. Ich konnte mich in ihren großen, glänzenden Augen spiegeln. Dann folgten herrliche Tage. Weihnachten!

Strahlende Gesichter, die ihre bescheidenen Geschenke besahen, und das kleine Mädchen jauchzte laut auf, als es ihren bunten Ball entdeckte. Zum Feiertag gab es einen etwas schmalen, aber gut duftenden Braten und einen großen Kuchen. Ich war glücklich, denn ich durfte mit meinem Schein zur Freude der Kinder beitragen. Nur eines bedrückte mich. Mein Wachs rann und rann. Mit Schrecken bemerkte ich, daß meine Geschwister merklich kleiner wurden und ich sie auch nur noch um weniges überragte.

Am zweiten Feiertag, abends, geschah es dann. Die beiden wurden kleiner und kleiner, der Wachs floß auseinander und schließlich stak nur noch der Docht in einer weichen, unansehnlichen Masse. Die Flammen flackerten, dann verlosch die erste und bald darauf die zweite. Die Frau nahm die kläglichen Überresten vom Tisch. Sie sangen noch ein Lied, dann bliesen sie mich aus und nur meine dicke Base brannte noch einige Zeit weiter. Ich konnte jetzt zwar nicht mehr leuchten, aber ich war froh, noch einmal dem frühen Tod ausgewichen zu sein. Ich stand noch einige Tage auf dem Schrank und einen Abend durfte ich noch brennen, bis es eines Nachts draußen zu knallen begann und die Kirchenglocken läuteten. Die Tannen sagten, daß nun das neue Jahr begonnen hätte.

Ich war sehr stolz, ein neues Jahr beginnen zu dürfen, mit welchem ich aber schon zwei Tage später in diese Schublade geworfen wurde, wo ich heute noch liege, auf zwei Zentimeter abgebrannt, mit hässlichen Spuren von geschmolzenem Talg an meinem schönen Leib, in der Nähe meiner dicken, roten Base, eines Bindfadens, eines rostigen Nagels und eines alten Blechautos, welches mir seine Leidensgeschichte erzählt hat.